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Zu Tode geliebt

 

Neulich bei Facebook. Abend. Täglicher Check der Nachrichten und Reaktionen zu meinen jüngsten Beiträgen. Ich schaue in den Gruppen vorbei, was so los ist.
In einer Hundegruppe springen mich ein paar Bilder an. Auf den Fotos ist ein großer Rassehund zu sehen, 9 Jahre alt, der bis auf die Knochen abgemagert ist und ein deutliches Stressgesicht zeigt. Die Bilder zeigen ihn von vorne, von oben, von hinten, vor ihm ein offenbar unangetasteter Hundenapf.
Bilder verhungernder Hunde kennt man aus dem Ausland. Diese Bilder hier, in der Umgebung eines deutschen, gepflegten Gartenambientes mit Mordsgrill und allerlei Chi-Chi, schockieren mich in weit größerem Ausmaß als die der Tierschützer aus Rumänien oder einem X-beliebigen anderen Land.
Sie schockieren mich aus folgendem Grund: Der erste Satz in dem Post, der schon über 150 Antworten hat, lautet: „Wann ist der richtige Zeitpunkt, und wie habt ihr das gelöst?“ Sie erzählt ein bisschen vom Werdegang, vor allem aber von ihrem persönlichen Leid und was der Hund ihr bedeutet, und ich werde blass und blasser. Und wütend.
Es geht darum, dass der Hund eine Tumorerkrankung hat und auch in tierärztlicher Behandlung ist, die Erkrankung aber offenbar rasch fortschreitet. Die Besitzerin will / kann ihn nicht gehen lassen, weil sie so an ihm hängt und sich „nicht vorstellen kann, ohne ihn zu leben.“ Und wie allein sie dann sei. Wie sehr sie den Hund liebt, und dass die Welt eine andere sein wird, wenn er nicht mehr da ist - nein, dieses worst-case-Szenario kann und will sie sich nicht vorstellen.
Da kann sie sich offenbar schon eher vorstellen, mit diesem gespenstischen, ausgemergelten Hund zu leben, der nicht mehr fressen kann (und es vielleicht auch nicht mehr will, weil Tiere das so machen, wenn die Zeit gekommen ist), nur noch schluckweise trinkt (weil ihm das Schlucken wehtut), nicht mehr laufen will (weil der Krebs die Muskulatur aufgezehrt hat) und sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Der Schmerzen hat, große, das sieht jeder an seinem Gesicht.
Der Hund sieht grauenhaft aus. Und leidet. Er siecht vor sich hin, stirbt vor ihren Augen, aber zu langsam. Die Frau sieht es nicht.
Der “richtige Zeitpunkt”, nachdem die Hundebesitzerin fragt, ist schon seit mindestens zwei Wochen überschritten, und seitdem quält sich dieser Hund, der nicht sterben darf, weil sein dämliches Frauchen zu egoistisch ist, ihn gehen zu lassen. Er bekommt Medikamente, gegen die Schmerzen. Jeder, der schon mal einen an Krebs erkrankten Menschen kennengelernt hat, weiß, was für Schmerzen Tumorschmerzen sind. Tierliebe, ad absurdum geführt.
Jemand fragt nach dem Tierarzt. Ich würde gern was fragen, nämlich, ob der auch so ahnungslos ist wie die Besitzer, und verkneife es mir. Andere tun es. Manche äußern Unmut, einige werden frech. Die Stimmung schlägt um. Die Fragen werden drängender. Mach dem ein Ende, ist der Tenor.
Der Post wird gelöscht.
So. Nun hat sie es uns aber gezeigt!
Ich kann nicht schlafen und mache mir Gedanken, wann der richtige Zeitpunkt da ist, um dem eigenen Tier einen würdigen Tod zu ermöglichen, weil das nämlich manchmal das Letzte ist, was man noch tun kann. Die meisten sagen: „Das siehst du, wenn es so weit ist.“
Ja, eben nicht! Sonst gäbe es ja diese Bilder nicht.
Ich forsche nach, obwohl es straff auf Mitternacht zugeht, und finde, man glaubt es nicht, drei weitere Post ähnlicher Couleur, alle aus der letzten Woche. Eine uralte, winzige Mischlingshündin in ihrem Körbchen, halbblind, kaum noch Fell. Wie ein abgeliebter Teddybär sieht sie aus. „Mein Schätzchen mag nichts mehr fressen, habt ihr gute Tipps?“
Nur einen: ab zum Telefon, Tierarzt herbeizitieren, dem bald 18jährigen Schätzchen, das gemütlich in seinem Körbchen auf den (aus Hundesicht hoffentlich baldigen) Tod wartet, streichelnd und NICHT HEULEND über die Regenbrücke helfen, aber dalli!
Stattdessen kommen sechsundachtzig gutgemeinte, aber saudumme Tipps, völlig an der Realität vorbei. Nicht einer wagt es, das einzig Richtige zu raten. Der Post ist acht Tage alt, die Hündin mit Sicherheit schon jenseits der Regenbogenbrücke, ich möchte nicht weiter suchen.
Ein Rüde aus dem Tierschutz, Straßenhund, niemals in einem Haus gelebt, mehrfach gebrochene Beine nach einem Unfall. Wird nach Deutschland gekarrt, Überlandtransport, tausend Kilometer, und operiert, operiert, operiert. Am Ende bekommt er eine Gehhilfe verpasst. Wer glaubt, dass es diesem Hund jemals gutgehen wird, der melde sich mal bitte bei mir, um sich den Kopf waschen zu lassen.
Das dritte Beispiel habe ich verdrängt.
„Zu Tode retten“ nennt man das, wenn man dies noch und jenes und auch, ach klar, das noch versucht, ehe man sich endlich eingestehen kann, dass es genug ist.
Es ist aber nicht genug. Es ist zu viel: Zu viel an Nicht-Verlieren-Können, zu viel an unbedingtem Menschen-Willen, von Menschen übrigens, die verantwortlich für diese Tiere sind.
Und es ist zu wenig. Zu wenig an Entscheidungsbereitschaft, zu wenig an Mut, und auch zu wenig an Mitleid.
Ja, Trauer tut weh. Es tut unendlich weh, sich von einem geliebten Tier trennen zu müssen. Nur: was IHNEN weh tut, spielt in diesem Fall nur eine sekundäre Rolle. Ihr Hund hat sich nicht ausgesucht, wo er lebt. SIE haben ihn ausgesucht. SIE haben ihn erzogen, gefüttert, geliebt. SIE sind für ihn verantwortlich. Jetzt müssen SIE den letzten Schritt machen, für ihn. Weil er es allein nämlich nicht kann, weil SIE ihn nicht in Ruhe lassen wollen und immer weitermachen, weiterretten, weiterbehandeln, bis er irgendwann röchelnd umfällt oder auf einem OP-Tisch vor einem Tierarzt liegt, der dann endlich ein Einsehen hat und Ihnen die Sache abnimmt.
Für die Hundehalter, die es nicht von sich aus sehen (und deren Tierarzt auch nicht, oder vielleicht will er es auch nicht, weil er sich schön was anhören müsste von der Dame mit dem vom Krebs fast völlig aufgezehrten Hund, weil sie nicht in der Lage ist, zu sehen, was jeder außer ihr sieht), folgen jetzt ein paar Links mit Entscheidungshelfen.
Nutzen Sie sie.
Lassen Sie sich helfen bei der Entscheidung, Ihrem Tier zu helfen. Aber posten Sie sowas nicht in einer Hundegruppe. Am Ende werden alle Sie hassen, auch die, die ihr dusseliges “R.I.P” unter das Bild des Hundewracks gepostet haben. Sie brauchen das doch nicht? Vorgeschobene Anteilnahme, wobei jeder mit ein bisschen Grips “der arme Hund!” denkt?
Ihre Trauer und Ihre Ratlosigkeit sind verständlich! Es gibt wenig schlimmeres, als einen Hund gehen zu lassen, der einen lange begleitet hat. Aber Sie sind gefordert. Sie müssen entscheiden. Zugunsten des Hundes. Heulen und sich bedauern lassen können Sie, wenn das vorbei ist und Sie einmal tief durchgeatmet haben, vor dem emotionalen Facebook-Post über Ihren Verlust, den jeder nachfühlen kann.
Bei Tieren sind wir in der dankenswerten Lage, solche Entscheidungen zu treffen. Ich frage mich wirklich, warum so viele Frauen Horrorgeschichten lesen. Halt, doch, ich weiß die Antwort! Der Unterschied ist jener zwischen Fiktion – und Realität. Mir genügt eine halbe Stunde bei Facebook, um kein Auge mehr zumachen zu können.

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